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Singt!

Liebe Lesergemeinde!

Photo by Joshua J. Cotten on Unsplash

Sie singen - alle…!

Aufgeregt, ja entsetzt und fassungslos stößt der Mann seine Erkundungsergebnisse hervor. Der Rat der Stadt Lemgo hatte ihn in die altehrwürdige Nicolai-Kirche geschickt. Dort sollte ja wieder einer dieser gräßlichen lutherischen Gottesdienste gehalten werden. Ketzerisches Teufelswerk, verboten natürlich, aber die Leute strömen ja trotzdem zu diesen Predigern, die im Gefolge Luthers eine neue Lehre zum Besten gaben. Auf deutsch auch noch – und das in der Kirche! Man stelle sich vor! Nun gut, man kann ja nicht gleich alle Kirchgänger verhaften. Mögen ja auch viele Neugierige oder verführte Seelen darunter sein. Aber die besonders evangelisch Gesinnten, die kann man ja schließlich schnell erkennen – und zwar am Gesang. Genau, eine weitere Unsitte dieser Evangelischen. Singen tun sie, aus voller Brust und Kehle. Deutsche Lieder auf bekannte Gassenhauer-Melodien. Also, ganz einfach: wer in der Kirche singt, der ist ein Ketzer. Punktum. Darum: schnell einen  Späher nach Sankt Nicolai geschickt. Der soll sich die Sänger, diese Schreihälse, merken und der Obrigkeit melden. Gesagt, getan. Sankt Nicolai ist voll, der Gottesdienst beginnt, und – sie singen alle! „Sie singen alle“ – der Büttel meldet mit diesen Worten dem Bürgermeister Conrad Flörke sein Erkundungsergebnis, worauf dieser nur noch stöhnt: „Ei, alles verloren!“ Alle singen - unfaßbar! Diesen Evangelischen ist nicht beizukommen.

Das ist keine Phantasieerzählung, sondern eine tatsächliche Begebenheit aus den Anfängen der Reformation in Lippe. Nicht nur in Minden-Ravensberg, sondern auch im benachbarten Lippe, von Lemgo aus,  nahm die Reformation ihren Lauf. Und die Hauptkennzeichen waren wie überall zwei Dinge: Predigten auf deutsch – und Gemeindegesang. Am Gesang waren seit den Anfängen der Reformation überall die Protestanten zu erkennen.

Der Sonntag Cantate richtet in unserer evangelischen Tradition in besonderer Weise den Blick auf die Musik in der Kirche. „Cantate Domino canticum novum - Singet dem Herrn ein neues Lied“, so die Aufforderung aus dem Wochenpsalm 98, die dem Sonntag seinen Namen gab. Singen ist eine Grundaufgabe der Christen

Grundaufgabe? Wenn wir die biblischen Texte zu diesem Thema ernst nehmen, dann ist das musikalische Lob Gottes - und besonders der Gesang! – kein Hobby der Gläubigen. Es ist vielmehr ein „Pflichtprogramm“, dem wir nachzukommen haben! Die Psalmen sind voll von der Aufforderung zum Gotteslob. Es heißt nicht: „Och, wir könnten dem lieben Gott zur Feier das Tages ja mal nen Liedchen singen“. Nein! Es heißt: „Singet! Rühmet! Preiset! Lobet!“ Und zwar mit allem, was Ihr zu bieten habt: mit komplettem Instrumentarium - und aus voller Brust und Kehle. Überall, wo in der Bibel vom musikalischen Gotteslob die Rede ist, steckt eine eindringliche Aufforderung dahinter!

Und diese Aufforderung bezieht sich auf alle Lebensbereiche, auf unserer Existenz als Gemeinschaft der Glaubenden. Das gesungene Gotteslob ist ein Wesensmerkmal der Kirche!

Aber – mal ganz abgesehen von den jetzigen Corona-Zeiten: allzu oft schweigen die Evangelischen heutzutage. Das, was in der Reformation noch befreiend war, scheint uns heute zur Last zu fallen. Der Gottesdienst ist schlecht besucht, der Gesang unsicher, es gibt ewige Diskussionen um die „richtigen“ Lieder.

Wie schön wäre es, wenn man die Evangelischen auch heute wieder am gemeinsamen Gesang erkennen würde! Gerade in Zeiten, die uns erschrecken wäre es doch DAS Zeichen schlechthin, gemeinsam zu singen. Angst vor Islamisierung oder vor dem Rechtsruck? Vor Attentaten oder Spaltung der Gesellschaft? Verzagtes „No, we can’t“ oder „wir schaffen das – nicht“? Sicherlich ist das alles ernst zu nehmen. Aber Probleme und Gefahren gab es immer schon. Und sogar weitaus Größere! Wie kommt denn wohl Paul Gerhardt dazu, seine schönsten Lieder angesicht persönlichen und kollektivem Elends zu schreiben? Warum verfasst Luther in Zeiten höchster Anfechtung die besten Lieder? Eben weil in den gemeinsam gesungen Liedern starker Trost und eine ungeheure Kraftquelle steckt! Die Reformatoren wussten das. Und so ist es kein Wunder, dass mit der Reformation auch das Singen, Loben, Rühmen und Preisen der Gemeinde große Bedeutung bekam.

„Sie singen alle!“ – das galt für Lemgo in den dortigen Anfängen der Reformation. Und das sollte ebenso gelten für Minden, wo sehr früh die Reformation als Bewegung einer Bürgerschaft zum Durchbruch kam. Auch die Kirchen- und Schulordnung, die Nikolaus Krage in St. Martini schon 1530 erlassen hat, ist voll von Hinweisen auf die Selbstverständlichkeit des gesungenen Gotteslobes in Kirche und Schule!

Natürlich müssen wir noch warten. Corona erlaubt einfach kein gemeinsames Singen. Aber wenn wir diese Zeiten hinter uns haben, dann wäre es ein schönes, befreiendes Zeichen, wenn wir wieder gemeinsam singen würden. Cantate domino – singet dem Herrn!

Psalm 98

Photo by Robert Collins on Unsplash

Singet dem Herrn ein neues Lied,
denn er tut Wunder.

     Er schafft Heil mit seiner Rechten
     und mit seinem heiligen Arm.

Der Herr läßt sein Heil kundwerden;
vor den Völkern macht er seine Gerechtigkeit offenbar.

     Er gedenkt an seine Gnade und Treue für das Haus Israel,
     aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.

Jauchzet dem Herrn, alle Welt,
singet, rühmet und lobet!

     Lobet den Herrn mit Harfen,
     mit Harfen und mit Saitenspiel!

Mit Trompeten und Posaunen
jauchzet vor dem Herrn, dem König!

     Das Meer brause und was darinnen ist,
     der Erdkreis und die darauf wohnen.

Die Ströme sollen frohlocken,
und alle Berge seien fröhlich vor dem Herrn;
denn er kommt, das Erdreich zu richten.

     Er wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit
     und die Völker, wie es recht ist. 

Halleluja!

Jauchzet Gott, alle Lande!
Lobsinget zur Ehre seines Namens;
rühmet ihn herrlich!

Halleluja!

Der Herr ist auferstanden,
er ist wahrhaftig auferstanden!

Halleluja!

Singt dem Herrn ein neues Lied!

Dieser Sonntag geht eigentlich nicht vorüber, ohne dass man die passende Motette von J.S. Bach hören sollte. Hier eine Aufnahme der Niederländischen Bachgesellschaft, eine besonders schöne und schwungvolle Aufnahme. Singen Sie mit - zu Hause.

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